Meine Ausbildung

Nach meiner bestandenen ersten Staatsprüfung im Lehramt für Grund- und Hauptschulen an der Universität meiner Heimatstadt, begann mein Referendariat an einer ländlichen Hauptschule. Ich bekam eine fünfte Klasse als Klassenlehrer und hatte eine siebte in Musik zu unterrichten. Die Hälfte meiner Stunden stand ich vor meinen Schülern, die andere Hälfte saß ich mit den anderen Referendaren im Unterricht bei unseren Ausbildern.

Diese zwei Jahre waren eine schlimme Zeit. Hätten sie noch einige Monate länger gedauert, so hätte ich sicher einen Nervenzusammenbruch erlitten.

Im Seminar war ein seltsames Phänomen zu beobachten: Die meisten der anderen Referendare (meist junge Frauen) hatten in dieser Zeit nur ein Ziel vor Augen: Eine möglichst gute Zensur bekommen. Dazu war ihnen jedes Mittel recht. Jedes Mal, wenn einer von uns eine Schulstunde gegeben hatte, bei der die anderen zusahen, wurde jene Vorführstunde in der anschließenden Besprechung von den anderen Referendaren buchstäblich in der Luft zerrissen. Es war wichtig für die ehrgeizigen jungen Frauen, dass ihre eigenen Stunden gut dastanden. Dafür ließen sie alle anderen und ihre Leistungen möglichst schlecht aussehen. Wenn man nämlich die guten Vorführstunden der anderen Referendare mies machte, dann sahen die eigenen doch gleich besser aus.

Hier merkte man so richtig, zu was unser Schulsystem erzieht: Am Ende kommen Egoisten heraus, die sich mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln auf Kosten anderer durchsetzen und gewinnen wollen. Dabei gehen sie buchstäblich über (Rufmord-)Leichen. Ich war entsetzt.

Geholfen wurde einem nur wenig. Stattdessen war die Ausbildung hauptsächlich dazu da, diejenigen herauszufiltern, die gute Vorführstunden halten konnten und zeigten, dass sie ins System passten. Das erfreute die Ausbilder, die sich dann all die neuen und frischen Ideen abgucken und in der nächsten Referendar-Runde als ihre eigenen ausgeben konnten. Gute Noten bekam nur, wer die anderen wirkungsvoll wegbeißen und sich selbst ins rechte Licht rücken konnte.

Natürlich versuchte ich, etwas gegen dieses ständige Schlechtmachen von guten Unterrichts-Stunden zu sagen. Wer aber zu dem bösen Spiel nicht den Mund hielt und etwas gegen die vielen ungerechtfertigten, von blankem Hochmut und Besserwisserei motivierten Angriffe sagte, wurde als naives Dummchen hingestellt - und das auch und gerade von Ausbildern.

Das ganze heuchlerische System führte mir die vollendete Absurdität unserer Lehrerausbildung deutlich vor Augen. Kein Wunder, dass sich die Lehrer später als Einzelkämpfer verstehen, die ihre Hilfsbedürftigkeit verstecken und überall ihre angebliche Stärke zur Schau stellen müssen. So kommt es auch, dass sich kaum einer im Lehrer-Kollegium helfen lässt oder nach Hilfe fragt. Und boshafte oder chaotische Schüler wissen das auszunutzen.

Ein Gutes hatte die Ausbildung doch: Jeden Wochenbeginn hatten wir unbenoteten, sehr praktisch orientierten Unterricht bei einem Hauptschulleiter. Wir nannten das immer Montags-Seminar. Dort ging es um viele Probleme aus unserer Unterrichts-Praxis. Sie wurden nicht nur angesprochen (das gab es in den anderen Seminaren auch), sondern angepackt und auf hemdsärmelige, aber effiziente Weise gelöst. Diese Stunden waren ein echter Gewinn. Hier konnten wir auch einmal andere Schularten besuchen und uns Unterricht in einer Sonderschule oder bei einem Gymnasial-Lehrer zeigen lassen. Wer wieder versuchte, alles schlecht zu machen, wurde gestoppt und die positiven und für uns hilfreichen Seiten des Gesehenen kamen auf die Tagesordnung. Nur hier und in meinen eigenen Unterrichts-Versuchen lernte ich wirklich etwas für meinen Beruf.

Mein Mentor in der Hauptschule war ziemlich ungeeignet für seine Aufgaben. Jedes Mal, wenn ich einen von seinen Ratschlägen umsetzte, fiel ich damit auf den Bauch. Wer sucht eigentlich die Mentoren aus? Und nach welchen Kriterien werden sie benannt? Das ist mir bis heute schleierhaft.

Dem Schulleiter der Hauptschule, an der ich unterrichtete, ging es nur um sein öffentliches Ansehen. Alles, aber auch wirklich alles, was er sagte und unternahm diente diesem Ziel. War er vielleicht deshalb Schulleiter geworden?

Am Ende war zwei von meinen Ausbildern klar, dass ich mit ihren ehrgeizigen, humanistischen Idealen nichts am Hut hatte. Sie versuchten daraufhin mich abzusägen und mich durchfallen zu lassen. Mein Ausbilder in Biologie setzte mich nach jeder meiner Vorführstunden unter Druck und wollte mir klar machen, dass ich angeblich nicht zum Lehrer taugen würde. Er war den Lehren des "New Age" sehr zugetan und reiste öfters mal auf Kongresse. Sein Lieblingsthema war seine eigene Karriere, die einen Einbruch erlitten hätte, weil ihm ein derart junger Seminar-Leiter vor die Nase gesetzt worden wäre.

Meine Deutsch-Ausbilderin kämpfte schon fast verzweifelt um öffentliche Anerkennung, die sie als Hauptschul-Lehrerin nicht bekam. Sie versuchte auch immer wieder, als Ausbilderin an Gesamtschulen anerkannt zu werden, scheiterte aber an ihrem Ausbildungsweg. Sie warf mit sehr vielen Fremdwörtern um sich und erwartete das auch von uns. Manche ihrer Ausdrücke waren für niemanden zu verstehen. Wahrscheinlich hatte sie die selbst erfunden oder irgendwo gelesen, wo jemand anderes sie erfunden hatte, ohne dass sich solch ein Wort bereits durchgesetzt hätte. Das System hatte wieder eine profilierte Vertreterin der Wichtigtuerei hervorgebracht, die wirklich schon bemitleidenswert war.

Meine Pädagogik-Ausbilderin versuchte ehrlich uns zu helfen und all ihren Referendaren eine fundierte Ausbildung zu ermöglichen. Leider scheiterte sie immer wieder an dem "Geist" des Seminars. Das Ausbildungsseminar war nämlich stolz darauf, Vorreiter im sogenannten "Offenen Unterricht" zu sein. Das ist eine Sammlung von Reformpädagogik-Ideen, die es bereits in der Weimarer Zeit gegeben hat. Damals versuchte z.B. Peter Petersen mit seiner Reformschule diese Ideen umzusetzen. Und man muss ehrlicherweise sagen, dass es Hitler weder verhindern konnte, noch irgendetwas dazu beigetragen hätte – im Gegenteil sogar.

Unsere Pädagogik-Ausbilderin war auch die Einzige, die sich mal die Mühe machte, uns Hintergründe aufzuzeigen. So erklärte sie uns den Grund für die Einführung des „offenen Unterrichts“. Demnach musste alles radikal umgestaltet werden, weil fast alle Schüler

  • sich nicht mehr konzentrieren können,

  • gewohnt sind, allein und ohne fremde Hilfe irgendetwas zu tun (Schlüsselkind-Problematik),

  • lieber in einer Gruppe mit Gleichaltrigen als mit Erwachsenen arbeiten und

  • nicht mehr mit Autorität umgehen können.

Frontal-Unterricht war "out". Wer ihn zu häufig verwendete galt im Seminar als unfähig. Der Lehrer sollte in Zukunft nicht mehr unterrichten, sondern für die Selbstbildung der Schüler sorgen - daher wurde er in "Bildungsorganisator" umbenannt. Das Mittel der Wahl war dabei eine Fülle von Arbeitsblättern oder anderen Arbeitsmitteln, mit denen Schüler sich allein oder in einer Gruppe beschäftigen können.

Natürlich wurde auch der Gruppenunterricht sehr forciert. Meine eigenen Unterrichtsversuche zum Thema zeigten, dass sich die Schüler gegenseitig ablenkten, gar nicht recht etwas Neues lernen wollten, sondern Blödsinn machten. Wenn bei einer Gruppenarbeit etwas herauskam, dann hatte einer die ganze Arbeit gemacht, während die anderen abschrieben oder ihn noch ärgerten, weil er etwas tat.

Mein inneres Unbehagen über den vorgestellten Unterricht wuchs immer mehr. Was war nur falsch an dem Ganzen? Mehr und mehr merkte ich, dass hier einfach alles auf den Kopf gestellt wurde, was seit Jahrtausenden galt.

  • Die Autorität des Lehrers wurde abgeschafft. Die Gruppe und ihre Dynamik-Prozesse traten an dessen Stelle.

  • Die Lehrfunktion des Lehrers wurde in den Hintergrund gedrängt. Die Kinder können sich angeblich selbst alles Wichtige beibringen.

  • Mit Material sparen oder einfach mal ein Schulbuch benutzen war nicht mehr angesagt. Statt dessen wurde der Unterricht zu einer regelrechten Materialschlacht. Schüler gehen im Klassenraum herum und holen sich irgend etwas, mit dem sie sich gerade beschäftigen wollen. Meist holen sie sich gar nichts und hängen nur faul herum. 

  • Das gleichzeitige, gemeinsame Unterrichten aller sollte aufhören. Der Lehrer hilft nur noch Einzelnen, die gerade mal Hilfe haben möchten (und nicht zu stolz sind, sie anzunehmen).

  • Der Unterricht ist von Anfang bis Ende komplett durchzuplanen. Vor Beginn einer Einheit musste bis zum Test am Ende bereits feststehen, was man wie zu machen hatte und wie die Schüler den Stoff zu lernen hatten.

Nur wie passte das alles mit dem zusammen, was mein Vorbild Jesus so getan hatte? Er stand nach diesen Auffassungen wie ein uralter Trottel da, der vom Unterrichten keine Ahnung gehabt hatte.

  • Jesus lehrte seine Jünger gemeinsam, indem er ihnen etwas vormachte bzw. ihnen etwas erzählte (lehrte). 

  • Gott hatte sehr wenig Material zur Verfügung und ging damit sehr ökonomisch um. Mit fünf Broten und zwei Fischen konnte er eine riesige Menschenmenge sättigen. Papier gab es noch gar nicht. Selbst Kreide und Tafel benutzte niemand.

  • Er ließ sich "Rabbi" (= "Meister", "Lehrer") nennen und machte überdeutlich, wer das Sagen hatte. Oft wies er seine Schüler ("Jünger") auch mehr oder weniger scharf zurecht, wenn sie etwas Menschliches oder Falsches getan hatten.

  • Jesus setzte auf den persönlichen Kontakt, aß mit seinen Nachfolgern und verbrachte ganze Wochen mit ihnen. Er hielt sich keineswegs im Hintergrund, sondern war gewohnt, dass sich alle zu seinen Füßen niederließen und ihm zuhörten.

  • Bei besonders wichtigen Ereignissen, wie z.B. der Verklärung auf dem Berge (Lk. 9, 28 ff.), trennte Jesus drei der Jünger von den anderen und ging nur mit ihnen hinauf. Er bildete nur Gruppen, wenn die Leute sich setzen und zusammen essen sollten. Und das waren dann auch 50 Menschen pro "Gruppe" - seltsame "Gruppenarbeit".

  • Bei Jesus gab es immer wieder Überraschungen. Nichts schien von vornherein festgelegt oder in seinem Ablauf standardisiert. Auf jede neue Situation reagierte er individuell und blieb flexibel.

Natürlich konnte der HERR vieles voraussehen (Joh. 5, 20) und wusste auch, was zu tun war, um die kommenden Herausforderungen zu meistern. So betete er z.B. eine ganze Nacht, bevor er seine Nachfolger aussuchte und einsetzte (Lk. 12,6).
Aber den kompletten Plan für alles bekam Jesus nicht. Er blieb abhängig von Gott und seiner Hilfe. Und das sollte auch bei uns so sein. Daher müssen wir Raum für Flexibilität lassen und nicht alles genauestens durchplanen und auf „Teufel-komm-raus“ durchziehen.

Wie viele spontane Situationen und Gelegenheiten bekam ich doch in meinem Unterricht! Wenn ich nur auf den Lehrplan geschaut und nicht flexibel gewesen wäre, so hätte ich alle diese Möglichkeiten verpasst. Immer wieder kommt im Unterricht ein Thema auf, das einzelne Schüler wirklich interessiert. Dann muss man selbst natürlich beweglich genug sein, um es zu erkennen und darauf einzugehen. Und die anderen Schüler müssen die Fähigkeit besitzen, still zuzuhören oder nur dann zu reden, wenn sie dran sind. Die Achtung vor dem anderen wird nicht dadurch gefördert, dass sich in der Gleichaltrigengruppe eine Hackordnung bildet und der Stärkste oder Brutalste sich durchsetzt. Eigentlich ist das eine Katastrophe für den Lernprozess des Einzelnen. Heute nennt man das oft "Erziehung zur Team-Fähigkeit".

Am Ende meiner Ausbildung hatte Gott Vorkehrungen getroffen, damit ich bestehen konnte: Der Schulrat war krank geworden und ausgerechnet der Schulleiter meines Montags-Seminars vertrat ihn. Er sorgte dafür, dass meine Lehrprobe mit "ausreichend" benotet wurde.

So kam ich durch meine Ausbildung. Sozusagen mit einem "blauen Auge". Bis heute werde ich nicht an Staatsschulen als Lehrer angenommen, weil ich eben ein solch "schlechtes" Referendariat abgelegt habe.